Inklusion: Ein Blick über den Tellerrand

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen … Diese alte Volksweisheit hat sich einmal mehr bewahrheitet, als wir im September mit einer Delegation des tlv Landesvorstandes in Südtirol waren.

Ziel unserer Reise war, uns aus nächster Nähe anzuschauen, wie und warum Inklusion dort funktioniert. (Und ganz nebenbei konnten wir auch gegenüber dem Bildungsausschuss des Thüringer Landtages Präsenz zeigen, der zeitgleich in Bozen weilte und den wir zum Fototermin trafen.) Wir haben mit den Mitgliedern des ASM (Arbeitskreis Südtiroler Mittel-, Ober- und Berufsschullehrer/-innen) gesprochen und uns mehrere verschiedene Grund- und Mittelschulen im deutschsprachigen Schulsprengel angeschaut.

Wenn ich die Ergebnisse dieser Gespräche und Schulbesuche in einen Satz fassen müsste, dann so: Äpfel und Birnen kann man nicht miteinander vergleichen!

Ja, die Inklusion funktioniert in Südtirol viel, viel besser als bei uns in Thüringen.

Ja, der inklusive Schulbetrieb ist dort von einer beeindruckenden Flexibilität und vor allem Autonomie der einzelnen Schulen geprägt.

Und ja, Inklusion wird in Südtirol von allen Beteiligten mit viel Herzblut gelebt.

Aber: Es wäre fatal, die Situation mit politischen Scheuklappen zu betrachten und auf diese Weise Schlüsse für Thüringen zu ziehen. Denn das, was in Südtirol Alltag ist, ist von unserer Realität nicht nur Hunderte Kilometer, sondern vor allem mehrere Jahrzehnte entfernt. Als dort im Jahr 1977 alle Förderschulen auf einmal geschlossen und somit die Inklusion buchstäblich über Nacht eingeführt wurde, haben wir – inklusionstechnisch gesprochen – noch auf Bäumen gelebt. Und wenn wir heute in Südtirol blühende Bildungslandschaften mit modernen Schulen, in gesundem Maße geforderten Lehrern und mündigen Eltern sehen, dann ist dies das Ergebnis eines langen Prozesses. Eines Prozesses, in dem es sicherlich auch viel Schweiß und viele Tränen gab, von denen aber die heutige „zweite Generation“ schon nicht mehr viel weiß.

Ja – das, was wir und auch unsere Bildungspolitiker in und um Bozen gesehen haben, macht Mut zum Träumen. Es bestätigt aber auch den tlv in seiner Mahnung zur nötigen Ruhe. Wenn wir jetzt Sandschlösser bauen, um möglichst schnell die perfekten Südtiroler Fassaden zu kopieren, kann das nicht zu dauerhaftem Erfolg führen. Eine Inklusion, die die Stürme der Welt übersteht, braucht gutes Material, viel Fachwissen und vor allem Zeit. Chi va piano, va sano e va lontano, sagen die Italiener: Wer die Dinge gelassen angeht, bleibt gesund und kommt weit.

Ihr
Rolf Busch