Schulische Gewalt in der Pandemie: „Alarmierende Entwicklung“

Umfrage des tlv zeigt auf: Fast jede zweite Lehrperson wird im Zuge des Infektionsschutzes bedroht, beschimpft, belästigt
Erfurt, 11.05.2021 – Während in Thüringen Regierungs- und Oppositionsparteien darüber beraten, wie die coronabedingten Bildungsdefizite bestmöglich ausgeglichen werden können, verweist der tlv thüringer lehrerverband auf ein akut drängendes Problem: Zwei aktuelle Umfragen haben aufgezeigt, dass eine große Zahl von Lehrerinnen und Lehrern Opfer von Gewalt werden, während sie versuchen, die offiziellen Coronamaßnahmen an den Schulen durchzusetzen.

Eine Anfang Mai vom tlv durchgeführte nicht repräsentative Umfrage unter den Lehrpersonen in Thüringen hat ergeben, dass 45 Prozent der Befragten im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Infektionsschutzes direkter psychischer Gewalt ausgesetzt waren – das heißt, sie wurden im persönlichen Kontakt beleidigt, beschimpft, bedroht oder belästigt. An den Grundschulen lag dieser Anteil bei 64 Prozent. Vorfälle psychischer Gewalt im Kollegium mitbekommen hatten sogar 54 Prozent der Teilnehmenden – und 75 Prozent an den Grundschulen.

Damit übertrifft Thüringen um ein Vielfaches die Ergebnisse einer repräsentativen forsa-Studie zum selben Thema, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) – dessen Landesverband der tlv ist – in Auftrag gegeben hatte: Im Bundesdurchschnitt haben in den vergangenen Wochen 7 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in der direkten Begegnung seelische Gewalt erfahren, 22 Prozent haben sie im Kollegium mitbekommen. An den Grundschulen waren bundesweit 11 Prozent selbst betroffen, 29 Prozent berichten, dass Kollegen seelische Gewalt erlitten haben.

Deutlich homogener sind die Ergebnisse bei der über das Internet ausgeübten Gewalt: Sowohl bundesweit als auch in Thüringen gab jede vierte Lehrperson an, im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Coronamaßnahmen selbst Opfer von Cybergewalt geworden zu sein. Körperliche Gewalt im Zusammenhang mit den Infektionsschutzmaßnahmen erlebten fünf Prozent der befragten Personen in Thüringen, im Bundesdurchschnitt waren es zwei Prozent.

Täter sind vor allem die Eltern, aber auch organisierte Gruppen

Sowohl deutschlandweit als auch in Thüringen gingen die direkten seelischen und die internetbasierten Übergriffe überwiegend von den Eltern aus. In Thüringen waren in 56 Prozent der Fälle direkter seelischer Gewalt und in 70 Prozent der Fälle von Internetgewalt Eltern die Täter. Aber auch Schüler/innen und Kolleg/innen werden zu Tätern – und darüber hinaus andere Erwachsene, die zum Beispiel in Organisationen engagiert sind, welche sich gegen die von der Schule ergriffenen Corona-Schutzmaßnahmen aussprechen.

Befragt nach ihren Erlebnissen, schilderten die Betroffenen unter anderem:

o „Ich wurde mit denen verglichen, die vor 80 Jahren an der Rampe in Buchenwald standen.“
o „Telefonisch wurde mir mitgeteilt, dass ich die Schule mit Nazimethoden leite.“
o „Beleidigungen wie verf****e Judenlehrerin.“
o „Vergleich mit Mauerschützen, die auch nur Befehle ausgeführt haben.“
o „Bespucken, Schläge gegen meine Person bzw. Kolleginnen.“
o „Tritte vor den Oberschenkel und in den Bauch.“
o „Hassmails.“
o „Mehrere Elternhäuser drohten mit strafrechtlicher Verfolgung.“
o „Eltern verlangten vehement persönliche Stellungnahme von uns Lehrkräften zu den Coronaschutzmaßnahmen.“
o „Plakat- und Flyer-Aktionen von Eltern vor der Schule.“
o „Eltern versammeln sich vor der Schule und schimpfen gegen die Maßnahmen, verunsichern die Kinder“.
o „Ein Vater zettelte eine Hetzkampagne auf Telegramm gegen unsere Schule an, in der uns fremde Menschen auf übelste Weiser bedrohten und beleidigten.“
o „Ich war coronainfiziert. Als die Schüler zum Testen mussten, bezeichnete mich der Vater eines Schülers über das Handy meines Mannes als die Schlampe, die in der Schule Corona verbreitet hat. Ich hatte keinen einzigen Schüler oder Lehrer angesteckt.“

Wenig Rückhalt vom Arbeitgeber

Gefragt, mit wem sie sich austauschen, wenn sie Opfer von Gewalt werden, nannten 47 Prozent der Thüringer Umfrageteilnehmer/inn die Kollegen. 29 Prozent suchen Rat und Unterstützung bei der Schulleitung. Wenig Vertrauen herrscht offenbar in die Schulaufsichtsbehörde und das Bildungsministerium: Dorthin wendeten sich bislang nur 8 bzw. 3 Prozent der Gewaltopfer. Eine betroffene Person formulierte unmissverständlich: „Eltern üben massiv Druck aus und versuchen, uns mit Beispielen aus der Justiz und aus aktuellen Fällen Angst zu machen. Dabei hat man keinerlei Unterstützung seitens der Schulaufsicht bzw. des Ministeriums.“ Eine Schulleiterin berichtet: „Es gibt immer Eltern, die ein Problem mit der Schule haben, aber diese aggressiven Anfeindungen werden persönlich. Das ist eine neue Qualität, der unbedingt von staatlicher Seite Einhalt geboten werden muss. Leider haben sich bisher weder Schulamt noch Ministerium positioniert, nachdem ich sie über diese Probleme an meiner Schule informiert habe.“

Belastung nimmt zu

Mehr als jede zweite Lehrperson in Thüringen (55 Prozent) hat den Eindruck, dass die Gewalt gegen Lehrpersonen im Verlauf der Pandemie zugenommen hat. Dies zeigt sich auch an der Belastungsskala: Hierbei sollten die Befragten mittels eines Wertes zwischen 1 (überhaupt nicht) und 10 (extrem) angeben, wie stark sie der Gedanke belastet, am Arbeitsplatz Opfer von seelischer oder körperlicher Gewalt zu sein oder vielleicht zu werden.

Während noch im September 2020 das arithmetische Mittel bei 4,7 lag, ergab sich nun ein Durchschnittswert von 5,3. Zudem erhöhte sich der Anteil derer, die eine Belastung von 7 oder höher angaben, von 35 auf 41 Prozent.

tlv-Landesvorsitzender: „Personal muss aktiv geschützt werden“

Diese Entwicklungen bezeichnet der tlv-Landesvorsitzende Rolf Busch als „absolut alarmierend“ – und fordert deutlich mehr Schutz seitens des Dienstherrn. „Der Frust vieler Menschen über die nun schon mehr als ein Jahr dauernde Pandemie entlädt sich ungehemmt an den Schulen, und die Beschäftigten sind dem oft schutzlos ausgeliefert.“

Es gehe dem Verband nicht darum, die Elternschaft pauschal zu verurteilen, betont Busch. „Im Gegenteil: Der überwiegende Teil der Eltern unterstützt die schulische Arbeit mit enormem persönlichen Einsatz. Aber die Schule macht als Spiegel in besonderer Weise die Risse deutlich, die angesichts der für alle nervenaufreibenden Lage derzeit durch die Gesellschaft gehen.“ Deshalb, so Busch, gebe es momentan massive Versuche, auch dort die aktuellen gesellschaftspolitischen Konflikte auszutragen. „Aber Schule muss für alle Beteiligten ein sicherer Raum sein. Neben den Plänen zur Schließung der Bildungslücken, die in diesen Tagen geschmiedet werden, müssen die verantwortlichen Behörden deshalb unbedingt auch auf dieser Ebene aktiv werden, um das Lehrpersonal besser vor Gewalt zu schützen.“

Gemeinsam mit dem VBE fordert der tlv deshalb:

o Möglichkeiten zur schnellen und unbürokratischen Meldung von Vorfällen
o umfangreiche juristische und psychologische Unterstützung nach Angriffen
o konkrete Ansprechpersonen im Kultusministerium, insbesondere für Fälle von Gewalt, die von externen Personen begangen wurden
o glaubwürdige, transparente und möglichst einheitliche Infektionsschutzmaßnahmen (inzidenzbasierter Stufenplan)

Das Problem sei ernst zu nehmen, mahnt Busch: „Es geht um das Wohl und die Gesundheit Tausender Kolleginnen und Kollegen. Und gleichzeitig geht es um nicht weniger als den Schulfrieden.“

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An der nicht repräsentativen Umfrage des tlv, die vom 7. bis zum 10. Mai 2021 durchgeführt wurde, beteiligten sich 188 Lehrpersonen. Für die vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegebene forsa-Studie wurden vom 27. April bis zum 5. Mai insgesamt 1501 Lehrerinnen und Lehrer in ganz Deutschland befragt.

Die detaillierten Ergebnisse beider Umfragen können angefordert werden unter: j.moghimi@tlv.de