Bildungspolitischer Eiertanz

Prof. Dr. Uwe Beck

Wenn man beim Thema Inklusion von einer gewissen Popularität reden kann, dann ist das besonders der hohen Aufmerksamkeit für die bildungspolitischen Diskurse geschuldet. Sie betreffen die föderale Diversität der inklusionspolitischen Landschaft, die strittige Kostenträgerfrage, die pädagogische Kompetenz des Regelschulsystems, die Zukunft der Förderschulen und die Reform sowohl der pädagogischen Studiengänge als auch der Curricula.

Bereits auf dieser Ebene werden Aporien deutlich, der die inklusionspolitischen Ambitionen ausgesetzt sind. Entweder wird das dreigliedrige Schulsystem mit seinen Selektionsmechanismen grundlegend reformiert oder aber „Inklusion“ meint nichts anderes als die „Einpassung“ in das bestehende System bis an die Grenze des Zumutbaren für alle Beteiligten.

Entweder werden Schulklassen deutlich verkleinert und das pädagogische Personal um sonderpädagogisches, pflegerisches und psychologisches ergänzt oder aber die Überforderung der Lehrerschaft ist vollends programmiert.

Entweder wird die Infrastruktur der Schulen deutlich renoviert und optimiert, wird durch barrierefreie Zugänge, Aufzüge, Therapie- und Rückzugsräume, sanitäre Anlagen, akustische Raumgestaltung usw. ein völlig überarbeitetes Gebäudekonzept von Schulen installiert oder aber Inklusion scheitert schon bei manchen am Treppenaufgang.

Entweder werden die Curricula, die Lehr- und Ausbildungspläne grundsätzlich überarbeitet, Fort- und Weiterbildung der Lehrerschaft intensiv betrieben, ergänzend zur Leistungszentrierung des Bildungssystems eine empathische, personen- und entwicklungsbezogene Pädagogik etabliert oder die hoch selektiven Mechanismen des bestehenden Schulsystems werden schlichtweg im „Inklusionssystem“ weitergeführt.

Die zahlreichen pädagogischen Stimmen aus Wissenschaft und Praxis, die das Dilemma dieses bildungspolitischen Eiertanzes beklagen, verhallen meist ungehört, insbesondere gegenüber den für die Finanzierungsquellen zuständigen Finanzministerien. Denn dass eine ernsthaft verfolgte inklusionsorientierte Bildungspolitik kein Sparpaket ist, sondern erhebliche Mehraufwendungen erforderlich macht, ist evident. Wer diese Form pädagogischer Misere zum Maßstab für die Diagnose der inklusionspolitisch mangelhaften Praktikabilität erhebt, dem ist analytisch Recht zu geben.

Nur dass diese Analyse nach Reformen der Bildungslandschaft schreit und nicht ihrer Verteidigung das Wort reden sollte. Förderschulen sind als subsidiäres System dann entbehrlich, wenn die Regelschulen unter Beachtung all dieser Faktoren sie auch entbehrlich machen.

Die Ehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit der schulpolitischen Inklusionsdebatte bemisst sich also nicht an der Schließung von Förderschulen, das wäre eine sehr einseitige und billige Lösung, sondern an den Reformerfolgen innerhalb des Regelschulsystems. Es braucht perspektivisch eine deutlich veränderte Regelschule, die eine auf die neue Situation angepasste Bildungsreform mit einer deutlich verbesserten Ressourcenausstattung im personellen und finanziellen Sinne vorweist. Nur dann wäre auch eine echte Wahlfreiheit für Kinder und Eltern zwischen Regel- und Förderschule hergestellt.

(aus: Becker, Uwe (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Verlag transcript Bielefeld)